Beate Richter (Gedanken zum Auftakt der Round-Table-Gespräche im September 2016)
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Als überforderndes, sogar bedrohliches Kennzeichen unserer Zeit wird oft die Komplexität in gesellschaftlichen
oder von technischen Systemen aufgerufen. Wir sagen damit, dass uns die Komplexität überfordert, da wir das
System nicht in Gänze erfassen, sein Verhalten nicht vorhersehen, nicht vorhersagen können. Pragmatisch [1]
gedacht, heißt das, dass wir angesichts einer komplexen Situation nicht wissen, wie wir reagieren bzw. handeln
sollen. In solchen Situationen ist die menschliche Bedeutungsbildung – mit einer passenden Handlung auf eine
vorausgehende Handlung oder Situation zu reagieren –, die ein verstehendes Kommunizieren erlaubt, empfindlich
gestört [2].
Für Kinder sind solche Störungen alltäglich. Sie reagieren auf eine Handlung oder Situation und müssen oft
feststellen, dass sie falsch liegen. Sie verstehen nicht, d. h. sie wissen nicht, wie man auf eine bestimmte Handlung
reagiert und sind zuweilen damit überfordert. Aber sie finden schnell eine Person, die ihnen hilft, die ihnen zeigt,
wie man richtig reagiert, oder eine Maschine, von der sie lernen können, richtig zu reagieren. Der Staatschef, der
auf einen Terroranschlag in seiner Hauptstadt reagieren muss, steht wie das Kind vor einer komplexen und
neuartigen Situation, in der er sich für eine richtige Reaktion entscheiden muss. Nur kann er keine höhere Instanz
fragen, keiner kann ihm sagen, was eine richtige und was eine falsche Handlung ist, da es diese Situation noch nie
gegeben hat. Wie diesen politischen oder unternehmerischen Entscheidungsträgern geht es auch Wissenschaftlern.
Sie sehen sich Phänomenen gegenüber, die keiner vor ihnen bisher gesehen oder bearbeitet hat. Diese Phänomene
erscheinen neu, komplex, unerklärlich, d. h. wir wissen nicht, wie wir mit ihnen umgehen sollen.
Am beschriebenen Phänomen der menschlichen Ratlosigkeit, dem Nicht-Wissen, wie zu handeln ist, macht sich
aus der Sicht des Pädagogen das grundsätzliche pädagogische Problem fest: Uns fehlen immer wieder gute
Strategien, um dem ratlosen Menschen nachhaltige, vielleicht auch effektive Wege zu einem sicheren, d. h.
passenden Handeln in einer Gemeinschaft aufzuzeigen. Zu allen Zeiten besteht der pädagogische Impuls, den
Menschen in seiner Entwicklung zu unterstützen, indem man ihm richtige Handlungsweisen vorgibt. Diese
Vorgaben beginnen im Kindergarten und enden in der Berufsausbildung oder der Universität. Abschließender
Höhepunkt pädagogischer Tätigkeit müsste sein, den Menschen zu befähigen, mit dem Neuen, dem Unbestimmten
selbstständig umgehen zu können. Am Ende des Wissens, des Bekannten, des Bestimmten angelangt, brauchen
Wissenschaftler und Entscheidungsträger Methoden, um angesichts des Unklaren, Unbestimmten, des Neuen in
ein eigenständiges bedeutungsbildendes Handeln zu kommen. Man kann sagen, der Höhepunkt pädagogischer
Tätigkeit ist die Abschaffung des Pädagogen.
Die praktische Pädagogik benötigt also zu allen Zeiten effektive, zeitgemäße und nachhaltige Strategien, um
Menschen jeden Alters darin zu unterstützen, über Interaktionen einen funktionalen eigenen Weg der
Bedeutungsbildung zu entwickeln, der bis zur völlig autarken Selbstbildung führen kann. Diese Entwicklung hin
zu einem handlungsfähigen Menschen wird seit Wilhelm von Humboldt im deutschen Sprachraum mit dem Wort
Bildung belegt. Hierbei wird der Prozess des Sich-Bildens als ein Selbst-Werden, ein Sich-Entwickeln der Person
in Lernprozessen oft mit dem Prozess des Ausbildens, Be-Lehrens, Erziehens verwechselt. Der Bildungsprozess
kommt aber nur der Person selbst zu. Pädagogen müssen daran glauben, dass ihre Tätigkeit eine bildende Wirkung
hat, neben oder über jene Interaktionen hinaus, die jeder Mensch im alltäglichen Handeln erlebt. Die bewusste und
gesteuerte Unterstützung durch Pädagogen nimmt aber wahrscheinlich nur einen sehr kleinen Bereich der
bildenden Interaktionen ein. Somit sprechen Überlegungen zur Thematik Bildung alle Personen an, die Menschen
in ihrem Werden, ihrer Entwicklung begleiten: Eltern, Verwandte, Erzieher, Lehrer, Hochschuldozenten, Trainer,
Berater, Coaches, Therapeuten etc.
Gängige Meinung ist nun: Wer wissen möchte, wie der Bildungsprozess eines Menschen vom Kind bis hin zum
selbstständigen Entwickler neuer Bedeutungen unterstützt bzw. gefördert werden kann, der sollte Klarheit darin
haben, was diesen Bildungsprozess ausmacht. Pädagogen haben bis heute keine Einigkeit erreicht, was sie unter
Bildung verstehen. Erst auf der Basis eines zeitgemäßen Bildungsverständnisses könnten Strategien für die
entscheidenden pädagogischen Wirkungsbereiche entwickelt werden: die frühkindliche Bildung, die Bildung von
Kindern und Jugendlichen und die Bildung von Erwachsenen.
Gründe für diese Art der Suche nach einem strategisch nutzbaren Bildungsverständnis hat es immer gegeben. Zu
Recht trifft hier der Vorwurf, nichts Neues zu suchen. Der Hauptgrund für den Ausbruch "zurück zu Humboldts
Bildung" liegt in der Wahrnehmung eines Rückschritts in den pädagogischen Institutionen in Europa. Bildung wird
wieder reduziert auf Ausbildung, auf Schulung in der Anpassungsfähigkeit junger, aber auch älterer Menschen an
zumeist ökonomische Systemanforderungen. Evaluationen wie PISA, Reformen der Hochschulbildung wie im
Bologna-Prozess führen zu pädagogischen Strategien, die nur in Maßen auf die Herausforderungen unserer
gesellschaftlichen Entwicklungen vorbereiten und kaum Beiträge leisten, die Handlungsfähigkeit der Menschen
hin zu einer Selbststeuerung in komplexen bzw. unbestimmten Situationen zu fördern.
Mit einer theoretischen Fundierung bzw. Operationalisierung von Bildung könnten die Stellschrauben für
pädagogisches Handeln in Institutionen der europäischen Bildungssysteme bestimmt werden. Weniger eine
vorschnelle Konkretisierung dieser Fundierung in Form weiterer Reformen soll die Perspektive dieses
Forschungsprogramms sein, sondern eine grundsätzliche Diskussion um ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung.
Letztlich ist zu prüfen, ob das Konzept Bildung eine Basis für eine zeitgemäße Entwicklung von
Bildungsinstitutionen und -systemen in Europa sein kann. Ein weiterer großer Schritt würde dann sein, spezifische
und übergreifende pädagogische Strategien zu entwerfen. Um passende pädagogische Strategien zu entwerfen, die
eine Optimierung von individuellen Bildungsprozessen bis hin zur Befähigung von Selbstbildungsprozessen
ermöglichen, ist ein fundiertes Wissen um die Struktur von Bildungsprozessen nötig und damit ein Wissen um das,
was Bildung fördert bzw. hemmt.
In Deutschland nimmt der Bildungsdiskurs seinen Ausgangspunkt bei Wilhelm von Humboldt. Im Rahmen der
"Bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung" wird seit Mitte der 1980er Jahre in der Linie von Rainer
Kokemohr, Hans-Christoph Koller und Winfried Marotzki der Schwerpunkt auf eine Verbindung von traditionell
theoretischer Bildungsphilosophie und aktuell hofierter empirischer Bildungsforschung über das Konzept der
Biographie gelegt. Seit nunmehr 30 Jahren ist das erklärte Ziel, den transformatorischen Bildungsbegriff in der
Humboldtschen Tradition zu präzisieren. Als Basis wird folgender Bildungsbegriff gewählt: Bildung ist ein
Transformationsprozess der Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses einer Person aus Anlass von
Krisenerfahrungen, welche die bestehenden Figuren in Frage stellen [3]. Trotz intensiver Forschungstätigkeit
kommen diese Studien nicht zu einer zufriedenstellenden Operationalisierung des Bildungsbegriffes.
Beate Richter attestiert 2014 dieser dem Interpretativen Paradigma verpflichteten Forschungstradition, sich in
einer methodologischen Sackgasse eingerichtet zu haben. Als Weg aus dieser schlägt sie den Übergang zu einer
relationalen pragmatischen Methodologie vor, die sich in den Sozialwissenschaften international bereits langsam
etabliert (siehe u. a. Kivinen/Piiroinen, 2006; Fuhse/Mützel 2010). Grundsätzlich geht es hierbei um eine Lösung
von repräsentationalen bzw. substantiellen Methodologien, die eine Trennung von Ontologie und Epistemologie
vornehmen, was schwerwiegende Trennungen nach sich zieht und zu Dichotomien wie etwa von Theorie und
Empirie führt. Eine relationale Perspektive wird aktuell als pragmatische Methodologie gedacht, welche die
Bedeutungsbildung in der Interaktion verortet, nach dem Wie des Prozesses der Bedeutungsbildung fragt und nicht
nach dem Warum, das die genannten Dichotomien erzeugt (Kivinen/Piiroinen, 2006).
Eine erste Arbeit, die im relationalen Paradigma eine Vorstufe zu einer Operationalisierung wagt, liegt mit der
Dissertation "Bildung relational denken" von Beate Richter (2014) vor. Diese als Exploration zu verstehende
Arbeit wählt eine dem relationalen Denken verpflichtete Methode, die informelle Axiomatisierung in der Tradition
von Wolfgang Stegmüller und Wolfgang Balzer, und arbeitet die Struktur von Bildungsprozessen heraus, indem
sie die empirische Entwicklungstheorie von Robert Kegan axiomatisiert. Ergebnis ist ein "Kontext-Ebenen-Modell
der Bedeutungsbildung", das über eine Modellierung des Bildungsprozesses eine klare Abgrenzung der Begriffe
Bildung, Entwicklung und Lernen ermöglicht und einen vielversprechenden Ansatz für eine Operationalisierung
des Bildungsbegriffes darstellt.
Aus diesem Stand der Forschung zum Bildungsbegriff ergeben sich nun drei Arbeitsfelder, die nach einer
angemessenen Exploration zu eigenständigen Forschungszielen werden können:
1. Auf der Ebene der Methodologie ist die Perspektive des relationalen, nicht-repräsentationalen mithin
pragmatischen Denkens zu sichern. Hierbei ist abweichend von realistischen Methodologien das Wie der
sozialwissenschaftlichen Bedeutungsbildung zu bestimmen. Die großen Fragen sind: Welches Ziel hat eine
relationale Erkenntnisgewinnung? Was sind die Alternativen zu einer Dichotomisierung von Theorie und Empirie?
Wie sollten wir diese anders verstandenen ‚Theorien‘ nennen? Welche Methoden erlauben die Zielerreichung einer
relationalen ‚Theorie‘-Bildung?
Diese Fragen sind entscheidend für die Begründung einer methodischen Operationalisierung des
Bildungsbegriffes, sofern wir nicht zu der Einsicht kommen, dass auch diese Form überholt ist.
2. Methoden im relationalen Paradigma sind noch nicht etabliert. Der Rückfall in eine Rekonstruktion des
Bildungsbegriffes im substantiellen Paradigma muss vermieden werden. Somit besteht die Aufgabe, bestehende
Methoden der Theoriebildung / Begriffsdefinition oder -rekonstruktion entweder als relationale zu identifizieren
oder neue relationale Methoden zu entwickeln. Die zu beantwortenden Fragen lauten: Welche Methoden können
im Rahmen einer relationalen Methodologie etabliert werden, um eine bildungswissenschaftliche relationale
‚Theorie‘-Bildung zu ermöglichen? Kann die informelle Axiomatisierung (nach Stegmüller/Balzer) als funktionale
Methode im relationalen Paradigma genutzt werden?
3. Akzeptiert man vorerst die informelle Axiomatisierung als eine relationale Methode, sind weitere empirische
Theorien über Robert Kegans Entwicklungstheorie hinaus zu axiomatisieren, um die Struktur von
Bildungsprozessen zu bestimmen. Die empirische (zumeist qualitative) Bildungsforschung stellt aktuell keine
empirischen Theorien bereit, die einen Entwicklungsgrad erreicht haben, der eine Axiomatisierung sinnvoll macht.
Hingegen sind einige Entwicklungstheorien der Psychologie in einem erfolgversprechenden Stadium. Robby
Cases, Kurt Fischers Ansätze könnten untersucht werden, um Übereinstimmungen mit Kegans Theoriestruktur
herauszuarbeiten und Begriffsfelder innerhalb dieser Struktur noch weitergehend zu bestimmen. Von besonderem
Interesse sind bei dieser Vertiefung der Struktur die Anlässe von Transformationen der Welt-Selbst-Verhältnisse
und der Transformationsprozess selbst.
[1] Ich beziehe mich hier auf die pragmatistische Maxime von Charles Sanders Peirce: "Pragmatism is the
principle that every theoretical judgment expressible in a sentence in the indicative mood is a confused form of
thought whose only meaning, if it has any, lies in its tendency to enforce a corresponding practical maxim
expressible as a conditional sentence having its apodosis in the imperative mood" (Peirce, 1973, S. 6) (CP 5.18).
[2] Ich vermute, dass der Begriff der Komplexität je nach Zeitgeschehen austauschbar ist. Begriffe wie Risiko,
Informationsflut, Orientierungsverlust waren in deutschen Diskursen um gesellschaftliche Veränderungen zur
Jahrtausendwende sehr beliebt. Auch das Wort Krise scheint aktuell ein Marker zu sein, der anzeigt, dass wir
nicht wissen, wie wir handeln sollen.
[3] Zu finden sind diese Formulierungen in den verschiedenen Schriften von Kokemohr, Koller, Marotzki und den
auf ihren Schriften aufbauenden Dissertationen (siehe Richter 2014).
Berlin, September 2016
Beate Richter (Gedanken zum Auftakt der Round-Table-Gespräche im September 2016)
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Als überforderndes, sogar bedrohliches Kennzeichen unserer Zeit wird oft die Komplexität in gesellschaftlichen
oder von technischen Systemen aufgerufen. Wir sagen damit, dass uns die Komplexität überfordert, da wir das
System nicht in Gänze erfassen, sein Verhalten nicht vorhersehen, nicht vorhersagen können. Pragmatisch [1]
gedacht, heißt das, dass wir angesichts einer komplexen Situation nicht wissen, wie wir reagieren bzw. handeln
sollen. In solchen Situationen ist die menschliche Bedeutungsbildung – mit einer passenden Handlung auf eine
vorausgehende Handlung oder Situation zu reagieren –, die ein verstehendes Kommunizieren erlaubt, empfindlich
gestört [2].
Für Kinder sind solche Störungen alltäglich. Sie reagieren auf eine Handlung oder Situation und müssen oft
feststellen, dass sie falsch liegen. Sie verstehen nicht, d. h. sie wissen nicht, wie man auf eine bestimmte Handlung
reagiert und sind zuweilen damit überfordert. Aber sie finden schnell eine Person, die ihnen hilft, die ihnen zeigt,
wie man richtig reagiert, oder eine Maschine, von der sie lernen können, richtig zu reagieren. Der Staatschef, der
auf einen Terroranschlag in seiner Hauptstadt reagieren muss, steht wie das Kind vor einer komplexen und
neuartigen Situation, in der er sich für eine richtige Reaktion entscheiden muss. Nur kann er keine höhere Instanz
fragen, keiner kann ihm sagen, was eine richtige und was eine falsche Handlung ist, da es diese Situation noch nie
gegeben hat. Wie diesen politischen oder unternehmerischen Entscheidungsträgern geht es auch Wissenschaftlern.
Sie sehen sich Phänomenen gegenüber, die keiner vor ihnen bisher gesehen oder bearbeitet hat. Diese Phänomene
erscheinen neu, komplex, unerklärlich, d. h. wir wissen nicht, wie wir mit ihnen umgehen sollen.
Am beschriebenen Phänomen der menschlichen Ratlosigkeit, dem Nicht-Wissen, wie zu handeln ist, macht sich
aus der Sicht des Pädagogen das grundsätzliche pädagogische Problem fest: Uns fehlen immer wieder gute
Strategien, um dem ratlosen Menschen nachhaltige, vielleicht auch effektive Wege zu einem sicheren, d. h.
passenden Handeln in einer Gemeinschaft aufzuzeigen. Zu allen Zeiten besteht der pädagogische Impuls, den
Menschen in seiner Entwicklung zu unterstützen, indem man ihm richtige Handlungsweisen vorgibt. Diese
Vorgaben beginnen im Kindergarten und enden in der Berufsausbildung oder der Universität. Abschließender
Höhepunkt pädagogischer Tätigkeit müsste sein, den Menschen zu befähigen, mit dem Neuen, dem Unbestimmten
selbstständig umgehen zu können. Am Ende des Wissens, des Bekannten, des Bestimmten angelangt, brauchen
Wissenschaftler und Entscheidungsträger Methoden, um angesichts des Unklaren, Unbestimmten, des Neuen in
ein eigenständiges bedeutungsbildendes Handeln zu kommen. Man kann sagen, der Höhepunkt pädagogischer
Tätigkeit ist die Abschaffung des Pädagogen.
Die praktische Pädagogik benötigt also zu allen Zeiten effektive, zeitgemäße und nachhaltige Strategien, um
Menschen jeden Alters darin zu unterstützen, über Interaktionen einen funktionalen eigenen Weg der
Bedeutungsbildung zu entwickeln, der bis zur völlig autarken Selbstbildung führen kann. Diese Entwicklung hin
zu einem handlungsfähigen Menschen wird seit Wilhelm von Humboldt im deutschen Sprachraum mit dem Wort
Bildung belegt. Hierbei wird der Prozess des Sich-Bildens als ein Selbst-Werden, ein Sich-Entwickeln der Person
in Lernprozessen oft mit dem Prozess des Ausbildens, Be-Lehrens, Erziehens verwechselt. Der Bildungsprozess
kommt aber nur der Person selbst zu. Pädagogen müssen daran glauben, dass ihre Tätigkeit eine bildende Wirkung
hat, neben oder über jene Interaktionen hinaus, die jeder Mensch im alltäglichen Handeln erlebt. Die bewusste und
gesteuerte Unterstützung durch Pädagogen nimmt aber wahrscheinlich nur einen sehr kleinen Bereich der
bildenden Interaktionen ein. Somit sprechen Überlegungen zur Thematik Bildung alle Personen an, die Menschen
in ihrem Werden, ihrer Entwicklung begleiten: Eltern, Verwandte, Erzieher, Lehrer, Hochschuldozenten, Trainer,
Berater, Coaches, Therapeuten etc.
Gängige Meinung ist nun: Wer wissen möchte, wie der Bildungsprozess eines Menschen vom Kind bis hin zum
selbstständigen Entwickler neuer Bedeutungen unterstützt bzw. gefördert werden kann, der sollte Klarheit darin
haben, was diesen Bildungsprozess ausmacht. Pädagogen haben bis heute keine Einigkeit erreicht, was sie unter
Bildung verstehen. Erst auf der Basis eines zeitgemäßen Bildungsverständnisses könnten Strategien für die
entscheidenden pädagogischen Wirkungsbereiche entwickelt werden: die frühkindliche Bildung, die Bildung von
Kindern und Jugendlichen und die Bildung von Erwachsenen.
Gründe für diese Art der Suche nach einem strategisch nutzbaren Bildungsverständnis hat es immer gegeben. Zu
Recht trifft hier der Vorwurf, nichts Neues zu suchen. Der Hauptgrund für den Ausbruch "zurück zu Humboldts
Bildung" liegt in der Wahrnehmung eines Rückschritts in den pädagogischen Institutionen in Europa. Bildung wird
wieder reduziert auf Ausbildung, auf Schulung in der Anpassungsfähigkeit junger, aber auch älterer Menschen an
zumeist ökonomische Systemanforderungen. Evaluationen wie PISA, Reformen der Hochschulbildung wie im
Bologna-Prozess führen zu pädagogischen Strategien, die nur in Maßen auf die Herausforderungen unserer
gesellschaftlichen Entwicklungen vorbereiten und kaum Beiträge leisten, die Handlungsfähigkeit der Menschen
hin zu einer Selbststeuerung in komplexen bzw. unbestimmten Situationen zu fördern.
Mit einer theoretischen Fundierung bzw. Operationalisierung von Bildung könnten die Stellschrauben für
pädagogisches Handeln in Institutionen der europäischen Bildungssysteme bestimmt werden. Weniger eine
vorschnelle Konkretisierung dieser Fundierung in Form weiterer Reformen soll die Perspektive dieses
Forschungsprogramms sein, sondern eine grundsätzliche Diskussion um ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung.
Letztlich ist zu prüfen, ob das Konzept Bildung eine Basis für eine zeitgemäße Entwicklung von
Bildungsinstitutionen und -systemen in Europa sein kann. Ein weiterer großer Schritt würde dann sein, spezifische
und übergreifende pädagogische Strategien zu entwerfen. Um passende pädagogische Strategien zu entwerfen, die
eine Optimierung von individuellen Bildungsprozessen bis hin zur Befähigung von Selbstbildungsprozessen
ermöglichen, ist ein fundiertes Wissen um die Struktur von Bildungsprozessen nötig und damit ein Wissen um das,
was Bildung fördert bzw. hemmt.
In Deutschland nimmt der Bildungsdiskurs seinen Ausgangspunkt bei Wilhelm von Humboldt. Im Rahmen der
"Bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung" wird seit Mitte der 1980er Jahre in der Linie von Rainer
Kokemohr, Hans-Christoph Koller und Winfried Marotzki der Schwerpunkt auf eine Verbindung von traditionell
theoretischer Bildungsphilosophie und aktuell hofierter empirischer Bildungsforschung über das Konzept der
Biographie gelegt. Seit nunmehr 30 Jahren ist das erklärte Ziel, den transformatorischen Bildungsbegriff in der
Humboldtschen Tradition zu präzisieren. Als Basis wird folgender Bildungsbegriff gewählt: Bildung ist ein
Transformationsprozess der Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses einer Person aus Anlass von
Krisenerfahrungen, welche die bestehenden Figuren in Frage stellen [3]. Trotz intensiver Forschungstätigkeit
kommen diese Studien nicht zu einer zufriedenstellenden Operationalisierung des Bildungsbegriffes.
Beate Richter attestiert 2014 dieser dem Interpretativen Paradigma verpflichteten Forschungstradition, sich in
einer methodologischen Sackgasse eingerichtet zu haben. Als Weg aus dieser schlägt sie den Übergang zu einer
relationalen pragmatischen Methodologie vor, die sich in den Sozialwissenschaften international bereits langsam
etabliert (siehe u. a. Kivinen/Piiroinen, 2006; Fuhse/Mützel 2010). Grundsätzlich geht es hierbei um eine Lösung
von repräsentationalen bzw. substantiellen Methodologien, die eine Trennung von Ontologie und Epistemologie
vornehmen, was schwerwiegende Trennungen nach sich zieht und zu Dichotomien wie etwa von Theorie und
Empirie führt. Eine relationale Perspektive wird aktuell als pragmatische Methodologie gedacht, welche die
Bedeutungsbildung in der Interaktion verortet, nach dem Wie des Prozesses der Bedeutungsbildung fragt und nicht
nach dem Warum, das die genannten Dichotomien erzeugt (Kivinen/Piiroinen, 2006).
Eine erste Arbeit, die im relationalen Paradigma eine Vorstufe zu einer Operationalisierung wagt, liegt mit der
Dissertation "Bildung relational denken" von Beate Richter (2014) vor. Diese als Exploration zu verstehende
Arbeit wählt eine dem relationalen Denken verpflichtete Methode, die informelle Axiomatisierung in der Tradition
von Wolfgang Stegmüller und Wolfgang Balzer, und arbeitet die Struktur von Bildungsprozessen heraus, indem
sie die empirische Entwicklungstheorie von Robert Kegan axiomatisiert. Ergebnis ist ein "Kontext-Ebenen-Modell
der Bedeutungsbildung", das über eine Modellierung des Bildungsprozesses eine klare Abgrenzung der Begriffe
Bildung, Entwicklung und Lernen ermöglicht und einen vielversprechenden Ansatz für eine Operationalisierung
des Bildungsbegriffes darstellt.
Aus diesem Stand der Forschung zum Bildungsbegriff ergeben sich nun drei Arbeitsfelder, die nach einer
angemessenen Exploration zu eigenständigen Forschungszielen werden können:
1. Auf der Ebene der Methodologie ist die Perspektive des relationalen, nicht-repräsentationalen mithin
pragmatischen Denkens zu sichern. Hierbei ist abweichend von realistischen Methodologien das Wie der
sozialwissenschaftlichen Bedeutungsbildung zu bestimmen. Die großen Fragen sind: Welches Ziel hat eine
relationale Erkenntnisgewinnung? Was sind die Alternativen zu einer Dichotomisierung von Theorie und Empirie?
Wie sollten wir diese anders verstandenen ‚Theorien‘ nennen? Welche Methoden erlauben die Zielerreichung einer
relationalen ‚Theorie‘-Bildung?
Diese Fragen sind entscheidend für die Begründung einer methodischen Operationalisierung des
Bildungsbegriffes, sofern wir nicht zu der Einsicht kommen, dass auch diese Form überholt ist.
2. Methoden im relationalen Paradigma sind noch nicht etabliert. Der Rückfall in eine Rekonstruktion des
Bildungsbegriffes im substantiellen Paradigma muss vermieden werden. Somit besteht die Aufgabe, bestehende
Methoden der Theoriebildung / Begriffsdefinition oder -rekonstruktion entweder als relationale zu identifizieren
oder neue relationale Methoden zu entwickeln. Die zu beantwortenden Fragen lauten: Welche Methoden können
im Rahmen einer relationalen Methodologie etabliert werden, um eine bildungswissenschaftliche relationale
‚Theorie‘-Bildung zu ermöglichen? Kann die informelle Axiomatisierung (nach Stegmüller/Balzer) als funktionale
Methode im relationalen Paradigma genutzt werden?
3. Akzeptiert man vorerst die informelle Axiomatisierung als eine relationale Methode, sind weitere empirische
Theorien über Robert Kegans Entwicklungstheorie hinaus zu axiomatisieren, um die Struktur von
Bildungsprozessen zu bestimmen. Die empirische (zumeist qualitative) Bildungsforschung stellt aktuell keine
empirischen Theorien bereit, die einen Entwicklungsgrad erreicht haben, der eine Axiomatisierung sinnvoll macht.
Hingegen sind einige Entwicklungstheorien der Psychologie in einem erfolgversprechenden Stadium. Robby
Cases, Kurt Fischers Ansätze könnten untersucht werden, um Übereinstimmungen mit Kegans Theoriestruktur
herauszuarbeiten und Begriffsfelder innerhalb dieser Struktur noch weitergehend zu bestimmen. Von besonderem
Interesse sind bei dieser Vertiefung der Struktur die Anlässe von Transformationen der Welt-Selbst-Verhältnisse
und der Transformationsprozess selbst.
[1] Ich beziehe mich hier auf die pragmatistische Maxime von Charles Sanders Peirce: "Pragmatism is the
principle that every theoretical judgment expressible in a sentence in the indicative mood is a confused form of
thought whose only meaning, if it has any, lies in its tendency to enforce a corresponding practical maxim
expressible as a conditional sentence having its apodosis in the imperative mood" (Peirce, 1973, S. 6) (CP 5.18).
[2] Ich vermute, dass der Begriff der Komplexität je nach Zeitgeschehen austauschbar ist. Begriffe wie Risiko,
Informationsflut, Orientierungsverlust waren in deutschen Diskursen um gesellschaftliche Veränderungen zur
Jahrtausendwende sehr beliebt. Auch das Wort Krise scheint aktuell ein Marker zu sein, der anzeigt, dass wir
nicht wissen, wie wir handeln sollen.
[3] Zu finden sind diese Formulierungen in den verschiedenen Schriften von Kokemohr, Koller, Marotzki und den
auf ihren Schriften aufbauenden Dissertationen (siehe Richter 2014).
Berlin, September 2016
Beate Richter (Gedanken zum Auftakt der Round-Table-Gespräche im September 2016)
PDF
Als überforderndes, sogar bedrohliches Kennzeichen unserer Zeit wird oft die Komplexität in gesellschaftlichen
oder von technischen Systemen aufgerufen. Wir sagen damit, dass uns die Komplexität überfordert, da wir das
System nicht in Gänze erfassen, sein Verhalten nicht vorhersehen, nicht vorhersagen können. Pragmatisch [1]
gedacht, heißt das, dass wir angesichts einer komplexen Situation nicht wissen, wie wir reagieren bzw. handeln
sollen. In solchen Situationen ist die menschliche Bedeutungsbildung – mit einer passenden Handlung auf eine
vorausgehende Handlung oder Situation zu reagieren –, die ein verstehendes Kommunizieren erlaubt, empfindlich
gestört [2].
Für Kinder sind solche Störungen alltäglich. Sie reagieren auf eine Handlung oder Situation und müssen oft
feststellen, dass sie falsch liegen. Sie verstehen nicht, d. h. sie wissen nicht, wie man auf eine bestimmte Handlung
reagiert und sind zuweilen damit überfordert. Aber sie finden schnell eine Person, die ihnen hilft, die ihnen zeigt,
wie man richtig reagiert, oder eine Maschine, von der sie lernen können, richtig zu reagieren. Der Staatschef, der
auf einen Terroranschlag in seiner Hauptstadt reagieren muss, steht wie das Kind vor einer komplexen und
neuartigen Situation, in der er sich für eine richtige Reaktion entscheiden muss. Nur kann er keine höhere Instanz
fragen, keiner kann ihm sagen, was eine richtige und was eine falsche Handlung ist, da es diese Situation noch nie
gegeben hat. Wie diesen politischen oder unternehmerischen Entscheidungsträgern geht es auch Wissenschaftlern.
Sie sehen sich Phänomenen gegenüber, die keiner vor ihnen bisher gesehen oder bearbeitet hat. Diese Phänomene
erscheinen neu, komplex, unerklärlich, d. h. wir wissen nicht, wie wir mit ihnen umgehen sollen.
Am beschriebenen Phänomen der menschlichen Ratlosigkeit, dem Nicht-Wissen, wie zu handeln ist, macht sich
aus der Sicht des Pädagogen das grundsätzliche pädagogische Problem fest: Uns fehlen immer wieder gute
Strategien, um dem ratlosen Menschen nachhaltige, vielleicht auch effektive Wege zu einem sicheren, d. h.
passenden Handeln in einer Gemeinschaft aufzuzeigen. Zu allen Zeiten besteht der pädagogische Impuls, den
Menschen in seiner Entwicklung zu unterstützen, indem man ihm richtige Handlungsweisen vorgibt. Diese
Vorgaben beginnen im Kindergarten und enden in der Berufsausbildung oder der Universität. Abschließender
Höhepunkt pädagogischer Tätigkeit müsste sein, den Menschen zu befähigen, mit dem Neuen, dem Unbestimmten
selbstständig umgehen zu können. Am Ende des Wissens, des Bekannten, des Bestimmten angelangt, brauchen
Wissenschaftler und Entscheidungsträger Methoden, um angesichts des Unklaren, Unbestimmten, des Neuen in
ein eigenständiges bedeutungsbildendes Handeln zu kommen. Man kann sagen, der Höhepunkt pädagogischer
Tätigkeit ist die Abschaffung des Pädagogen.
Die praktische Pädagogik benötigt also zu allen Zeiten effektive, zeitgemäße und nachhaltige Strategien, um
Menschen jeden Alters darin zu unterstützen, über Interaktionen einen funktionalen eigenen Weg der
Bedeutungsbildung zu entwickeln, der bis zur völlig autarken Selbstbildung führen kann. Diese Entwicklung hin
zu einem handlungsfähigen Menschen wird seit Wilhelm von Humboldt im deutschen Sprachraum mit dem Wort
Bildung belegt. Hierbei wird der Prozess des Sich-Bildens als ein Selbst-Werden, ein Sich-Entwickeln der Person
in Lernprozessen oft mit dem Prozess des Ausbildens, Be-Lehrens, Erziehens verwechselt. Der Bildungsprozess
kommt aber nur der Person selbst zu. Pädagogen müssen daran glauben, dass ihre Tätigkeit eine bildende Wirkung
hat, neben oder über jene Interaktionen hinaus, die jeder Mensch im alltäglichen Handeln erlebt. Die bewusste und
gesteuerte Unterstützung durch Pädagogen nimmt aber wahrscheinlich nur einen sehr kleinen Bereich der
bildenden Interaktionen ein. Somit sprechen Überlegungen zur Thematik Bildung alle Personen an, die Menschen
in ihrem Werden, ihrer Entwicklung begleiten: Eltern, Verwandte, Erzieher, Lehrer, Hochschuldozenten, Trainer,
Berater, Coaches, Therapeuten etc.
Gängige Meinung ist nun: Wer wissen möchte, wie der Bildungsprozess eines Menschen vom Kind bis hin zum
selbstständigen Entwickler neuer Bedeutungen unterstützt bzw. gefördert werden kann, der sollte Klarheit darin
haben, was diesen Bildungsprozess ausmacht. Pädagogen haben bis heute keine Einigkeit erreicht, was sie unter
Bildung verstehen. Erst auf der Basis eines zeitgemäßen Bildungsverständnisses könnten Strategien für die
entscheidenden pädagogischen Wirkungsbereiche entwickelt werden: die frühkindliche Bildung, die Bildung von
Kindern und Jugendlichen und die Bildung von Erwachsenen.
Gründe für diese Art der Suche nach einem strategisch nutzbaren Bildungsverständnis hat es immer gegeben. Zu
Recht trifft hier der Vorwurf, nichts Neues zu suchen. Der Hauptgrund für den Ausbruch "zurück zu Humboldts
Bildung" liegt in der Wahrnehmung eines Rückschritts in den pädagogischen Institutionen in Europa. Bildung wird
wieder reduziert auf Ausbildung, auf Schulung in der Anpassungsfähigkeit junger, aber auch älterer Menschen an
zumeist ökonomische Systemanforderungen. Evaluationen wie PISA, Reformen der Hochschulbildung wie im
Bologna-Prozess führen zu pädagogischen Strategien, die nur in Maßen auf die Herausforderungen unserer
gesellschaftlichen Entwicklungen vorbereiten und kaum Beiträge leisten, die Handlungsfähigkeit der Menschen
hin zu einer Selbststeuerung in komplexen bzw. unbestimmten Situationen zu fördern.
Mit einer theoretischen Fundierung bzw. Operationalisierung von Bildung könnten die Stellschrauben für
pädagogisches Handeln in Institutionen der europäischen Bildungssysteme bestimmt werden. Weniger eine
vorschnelle Konkretisierung dieser Fundierung in Form weiterer Reformen soll die Perspektive dieses
Forschungsprogramms sein, sondern eine grundsätzliche Diskussion um ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung.
Letztlich ist zu prüfen, ob das Konzept Bildung eine Basis für eine zeitgemäße Entwicklung von
Bildungsinstitutionen und -systemen in Europa sein kann. Ein weiterer großer Schritt würde dann sein, spezifische
und übergreifende pädagogische Strategien zu entwerfen. Um passende pädagogische Strategien zu entwerfen, die
eine Optimierung von individuellen Bildungsprozessen bis hin zur Befähigung von Selbstbildungsprozessen
ermöglichen, ist ein fundiertes Wissen um die Struktur von Bildungsprozessen nötig und damit ein Wissen um das,
was Bildung fördert bzw. hemmt.
In Deutschland nimmt der Bildungsdiskurs seinen Ausgangspunkt bei Wilhelm von Humboldt. Im Rahmen der
"Bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung" wird seit Mitte der 1980er Jahre in der Linie von Rainer
Kokemohr, Hans-Christoph Koller und Winfried Marotzki der Schwerpunkt auf eine Verbindung von traditionell
theoretischer Bildungsphilosophie und aktuell hofierter empirischer Bildungsforschung über das Konzept der
Biographie gelegt. Seit nunmehr 30 Jahren ist das erklärte Ziel, den transformatorischen Bildungsbegriff in der
Humboldtschen Tradition zu präzisieren. Als Basis wird folgender Bildungsbegriff gewählt: Bildung ist ein
Transformationsprozess der Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses einer Person aus Anlass von
Krisenerfahrungen, welche die bestehenden Figuren in Frage stellen [3]. Trotz intensiver Forschungstätigkeit
kommen diese Studien nicht zu einer zufriedenstellenden Operationalisierung des Bildungsbegriffes.
Beate Richter attestiert 2014 dieser dem Interpretativen Paradigma verpflichteten Forschungstradition, sich in
einer methodologischen Sackgasse eingerichtet zu haben. Als Weg aus dieser schlägt sie den Übergang zu einer
relationalen pragmatischen Methodologie vor, die sich in den Sozialwissenschaften international bereits langsam
etabliert (siehe u. a. Kivinen/Piiroinen, 2006; Fuhse/Mützel 2010). Grundsätzlich geht es hierbei um eine Lösung
von repräsentationalen bzw. substantiellen Methodologien, die eine Trennung von Ontologie und Epistemologie
vornehmen, was schwerwiegende Trennungen nach sich zieht und zu Dichotomien wie etwa von Theorie und
Empirie führt. Eine relationale Perspektive wird aktuell als pragmatische Methodologie gedacht, welche die
Bedeutungsbildung in der Interaktion verortet, nach dem Wie des Prozesses der Bedeutungsbildung fragt und nicht
nach dem Warum, das die genannten Dichotomien erzeugt (Kivinen/Piiroinen, 2006).
Eine erste Arbeit, die im relationalen Paradigma eine Vorstufe zu einer Operationalisierung wagt, liegt mit der
Dissertation "Bildung relational denken" von Beate Richter (2014) vor. Diese als Exploration zu verstehende
Arbeit wählt eine dem relationalen Denken verpflichtete Methode, die informelle Axiomatisierung in der Tradition
von Wolfgang Stegmüller und Wolfgang Balzer, und arbeitet die Struktur von Bildungsprozessen heraus, indem
sie die empirische Entwicklungstheorie von Robert Kegan axiomatisiert. Ergebnis ist ein "Kontext-Ebenen-Modell
der Bedeutungsbildung", das über eine Modellierung des Bildungsprozesses eine klare Abgrenzung der Begriffe
Bildung, Entwicklung und Lernen ermöglicht und einen vielversprechenden Ansatz für eine Operationalisierung
des Bildungsbegriffes darstellt.
Aus diesem Stand der Forschung zum Bildungsbegriff ergeben sich nun drei Arbeitsfelder, die nach einer
angemessenen Exploration zu eigenständigen Forschungszielen werden können:
1. Auf der Ebene der Methodologie ist die Perspektive des relationalen, nicht-repräsentationalen mithin
pragmatischen Denkens zu sichern. Hierbei ist abweichend von realistischen Methodologien das Wie der
sozialwissenschaftlichen Bedeutungsbildung zu bestimmen. Die großen Fragen sind: Welches Ziel hat eine
relationale Erkenntnisgewinnung? Was sind die Alternativen zu einer Dichotomisierung von Theorie und Empirie?
Wie sollten wir diese anders verstandenen ‚Theorien‘ nennen? Welche Methoden erlauben die Zielerreichung einer
relationalen ‚Theorie‘-Bildung?
Diese Fragen sind entscheidend für die Begründung einer methodischen Operationalisierung des
Bildungsbegriffes, sofern wir nicht zu der Einsicht kommen, dass auch diese Form überholt ist.
2. Methoden im relationalen Paradigma sind noch nicht etabliert. Der Rückfall in eine Rekonstruktion des
Bildungsbegriffes im substantiellen Paradigma muss vermieden werden. Somit besteht die Aufgabe, bestehende
Methoden der Theoriebildung / Begriffsdefinition oder -rekonstruktion entweder als relationale zu identifizieren
oder neue relationale Methoden zu entwickeln. Die zu beantwortenden Fragen lauten: Welche Methoden können
im Rahmen einer relationalen Methodologie etabliert werden, um eine bildungswissenschaftliche relationale
‚Theorie‘-Bildung zu ermöglichen? Kann die informelle Axiomatisierung (nach Stegmüller/Balzer) als funktionale
Methode im relationalen Paradigma genutzt werden?
3. Akzeptiert man vorerst die informelle Axiomatisierung als eine relationale Methode, sind weitere empirische
Theorien über Robert Kegans Entwicklungstheorie hinaus zu axiomatisieren, um die Struktur von
Bildungsprozessen zu bestimmen. Die empirische (zumeist qualitative) Bildungsforschung stellt aktuell keine
empirischen Theorien bereit, die einen Entwicklungsgrad erreicht haben, der eine Axiomatisierung sinnvoll macht.
Hingegen sind einige Entwicklungstheorien der Psychologie in einem erfolgversprechenden Stadium. Robby
Cases, Kurt Fischers Ansätze könnten untersucht werden, um Übereinstimmungen mit Kegans Theoriestruktur
herauszuarbeiten und Begriffsfelder innerhalb dieser Struktur noch weitergehend zu bestimmen. Von besonderem
Interesse sind bei dieser Vertiefung der Struktur die Anlässe von Transformationen der Welt-Selbst-Verhältnisse
und der Transformationsprozess selbst.
[1] Ich beziehe mich hier auf die pragmatistische Maxime von Charles Sanders Peirce: "Pragmatism is the
principle that every theoretical judgment expressible in a sentence in the indicative mood is a confused form of
thought whose only meaning, if it has any, lies in its tendency to enforce a corresponding practical maxim
expressible as a conditional sentence having its apodosis in the imperative mood" (Peirce, 1973, S. 6) (CP 5.18).
[2] Ich vermute, dass der Begriff der Komplexität je nach Zeitgeschehen austauschbar ist. Begriffe wie Risiko,
Informationsflut, Orientierungsverlust waren in deutschen Diskursen um gesellschaftliche Veränderungen zur
Jahrtausendwende sehr beliebt. Auch das Wort Krise scheint aktuell ein Marker zu sein, der anzeigt, dass wir
nicht wissen, wie wir handeln sollen.
[3] Zu finden sind diese Formulierungen in den verschiedenen Schriften von Kokemohr, Koller, Marotzki und den
auf ihren Schriften aufbauenden Dissertationen (siehe Richter 2014).
Berlin, September 2016